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Titel
Hannah Arendt. Die Biografie


Autor(en)
Meyer, Thomas
Erschienen
München 2023: Piper Verlag
Anzahl Seiten
520 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
René Schlott, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Das legendäre Gespräch von Hannah Arendt mit Günter Gaus in dessen Sendereihe „Zur Person“ aus dem Jahr 1964 beginnt etwas holprig. Nachdem Gaus seine Gesprächspartnerin, die erste Frau in der Interviewreihe, mit den Worten vorgestellt hat, sie sei eine „Philosophin“, protestiert Arendt: „Mein Beruf […] ist politische Theorie. Ich fühle mich keineswegs als Philosophin.“1 Als Gaus daraufhin nach dem Unterschied zwischen Philosophie und politischer Theorie fragt, holt Arendt zu einer längeren, keineswegs widerspruchsfreien Antwort aus, in der sie schließlich zwischen dem Menschen als philosophierendem und handelndem Wesen differenziert. Letzterer Kategorie rechnet sie sich selbst zu.

Thomas Meyer folgt dieser Selbstdeutung Arendts und präsentiert sie in seiner Biografie, deren Einleitung ein programmatisches Zitat aus dem Gaus-Interview vorangestellt ist („Alles Denken ist Nachdenken, der Sache nach – denken.“), als politisch Handelnde – manche Rezensenten meinen gar als „politische Aktivistin“2 –, etwa als Angehörige eines Unterstützerkreises für den Gustloff-Attentäter David Frankfurter und als Mitarbeiterin, später Geschäftsführerin der „Commission on European Jewish Cultural Reconstruction“ (1944 bis 1952/53).

Dem Philosophen Meyer, Herausgeber einer seit 2020 erscheinenden „Studienausgabe“ der Werke Arendts3, ist es aber vor allem gelungen, zahlreiche neue Quellen zu Arendts Engagement bei der Rettung von Kindern und Jugendlichen aus Europa während ihres Exils in Genf und Paris zusammenzutragen und auszuwerten. Ungefähr ein Viertel seiner fast 500-seitigen Darstellung hat Meyer der Jugend-Alijah und deren organisatorischen Hintergründen eingeräumt. Es war zwar bereits bekannt, dass Arendt sich während ihrer Zeit in der französischen Hauptstadt von 1934 bis 1940 in der Bewegung engagierte (und während dieser Phase kaum mehr etwas schrieb und nichts veröffentlichte). Aber Meyer kann zahlreiche wertvolle Details hinzufügen und überzeugend verdeutlichen, wie wichtig dieser Lebensabschnitt für die Denkerin Arendt werden sollte.

Dies gilt etwa im Hinblick auf ihre bis heute umstrittenen Äußerungen zu den Ereignissen in „Little Rock“ 1957, dem Streit um die Diskriminierung schwarzer Schülerinnen und Schüler einer Highschool im US-Bundesstaat Arkansas – ein Fall, den Meyer differenziert, aber seiner Protagonistin gegenüber keineswegs unkritisch einzuordnen weiß; oder auch bezogen auf ihr ambivalentes Verhältnis zum Staat Israel, den die überzeugte Zionistin Arendt, die 1935 einige der geretteten Kinder selbst nach Palästina begleitet hatte, wegen des aus ihrer Sicht historisch diskreditierten Nationalstaatskonzepts ablehnte. Sie verfolgte eine andere Staatsidee, die in heutigen Maßstäben einer konföderativen „Einstaatenlösung“ nahekommt und die sie in einem von Meyer übersetzten Interview der „New York Post“ 1946 konkretisierte: „Eine Jordan Valley Authority sollte eingerichtet werden, um das Land zu entwickeln. Palästina könnte dann so viele Juden und Araber aufnehmen, wie es möchte. Lokale Räte dieser beiden Völker könnten eine Grundlage für eine neue politische Struktur bilden.“ (S. 243)

Wie andere längere zitierte Quellen in der Biografie, darunter zahlreiche Briefe von und an Arendt, Gutachten und Referenzschreiben für sie sowie ein zum Ausgang der biografischen Darstellung genommener, selbst verfasster Lebenslauf Arendts vom Mai 1941 (S. 19–21) ist der Interviewtext aus der „New York Post“ in einer Schreibmaschinen-Typografie vom übrigen Fließtext abgesetzt – eine originelle Gestaltungsidee, die sofort ins Auge fällt und die Zeitgebundenheit der Texte anschaulich macht.

Biografietheoretisch interessant ist Meyers Anwendung des bei Karl Mannheim entlehnten, später auch von Reinhart Koselleck aufgenommenen Begriffspaares „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“, dem Meyer einen von Arendt zuerst in „Vita activa“ (1960) entwickelten „Erscheinungsraum“ zur Seite stellt. En détail zeichnet Meyer den mit dem Jahr 1933 völlig zerstörten „Erfahrungsraum“ Arendts aus Herkunft und Kindheit in einer assimilierten bürgerlichen Königsberger Kaufmannsfamilie, Studium in Marburg und Heidelberg und Promotion bei Karl Jaspers mit einer Arbeit zu Augustinus nach. Im Pariser Exil sowie mit dem Wissen um Auschwitz und die Shoah war Arendt dann jeder „Erwartungshorizont“ genommen, und sie musste an einem neuen „Erscheinungsraum“ arbeiten, als dessen Ergebnis Meyer vor allem ihr 1951 publiziertes Werk „The Origins of Totalitarianism“ sieht, dem vier Jahre später mit „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ eine inhaltlich differente deutsche Ausgabe folgte.

Den „Origins“ widmet Meyer eines seiner zehn Kapitel in der nicht durchgehend chronologischen Darstellung, während er alle anderen Bücher Arendts gemeinsam in einem weiteren Kapitel bespricht, in dem sich auch inhaltliche Fehler finden. So erschien das Original von Raul Hilbergs „The Destruction of the European Jews“ 1961 in einem einzigen voluminösen Band. Erst später – 1985 in den USA und 1990 in Deutschland – wurde es ergänzt und erweitert in drei Bänden herausgegeben. Meyer tut Hilbergs Darstellung Unrecht mit der Behauptung, dessen Werk, das von einer Akribie für Zahlen geprägt war und im Anhang eine eigens erstellte Berechnung der Gesamtzahl der Holocaust-Opfer enthielt, habe „nicht in Ansätzen auf ähnliches Zahlenmaterial [wie Arendt] zurückgreifen können“ (S. 443). Und Christopher Brownings Studie „Ordinary Men“ (1992) untersuchte eben nicht „ganz normale Männer“ der SS (S. 307), sondern die Angehörigen eines Reserve-Polizeibataillons.

Ein Buch von mehreren hundert Seiten enthält wohl unvermeidlich solche Detailfehler und auch einige Längen. Nicht immer ist Meyers Darstellung ein reines Lesevergnügen. Wenn er Arendt in ihrem Buch „Vita activa“ (1960) einen „mäandernden Stil“ attestiert (S. 433), dann bewahrheitet sich wieder einmal das Bonmot, dass Biografien mindestens so viel über Biografierende wie über Biografierte offenbaren. Die Aussageabsicht manch umständlicher Satzkonstruktionen Meyers wird auch beim zweiten Lesen nicht klarer. Andere Sätze haben in ihrer Prägnanz geradezu literarische Qualität: „Hannah Arendt war eine Jüdin aus Königsberg.“ (S. 35) Einige Charakterisierungen etwa von Heinrich Blücher („wie gesagt ein Frauentyp, heute hier, morgen dort“, S. 165) und von Martin Heidegger („dem Träger eigenwillig modischer Anzüge“, S. 73) sind dagegen etwas schräg geraten. Begriffsschöpfungen wie „Porno-Antisemiten“ (S. 293) oder „Qualmgrazie“ (S. 319) wirken deplatziert. Und Meyers Nachweise von Quellen sind nicht völlig konsistent – Fußnoten setzt er nur sehr sparsam, und dem Buch fehlt ein Verzeichnis der verwendeten Sekundärliteratur.4

Über Hannah Arendt eine neue Biografie vorzulegen, war in Anbetracht der Fülle schon vorhandener Literatur und auch angesichts des 1986 auf Deutsch erschienenen Standardwerks zu Leben und Werk Arendts aus der Feder ihrer Schülerin und einzigen Doktorandin Elisabeth Young-Bruehl5 ein mutiges und letztlich gelungenes Vorhaben, für das Meyer Respekt zu zollen ist, auch wenn er nicht „Die Biografie“ vorgelegt hat. Dieser etwas vollmundige Untertitel mag verlegerischen Marketing-Gesichtspunkten geschuldet sein. Denn selbstverständlich hat auch Meyers Arendt-Biografie Lücken, beispielsweise in der Rezeptionsgeschichte. Andere Leerstellen sind einer mangelnden Quellenlage geschuldet, wie der Autor selbst einräumt.

Aber Meyer hat sich für eine Darstellung entschieden, die ihre Schwerpunkte entlang neuer Quellenfunde und bislang wenig beachteter Dokumente und Aspekte ihres Lebens setzt. So gibt es in dieser Biografie, die der Autor „eine Reihe von Annäherungen“ nennt (S. 31), ein sehr anregendes Kapitel über Arendts Verhältnis zur Literatur und ein aufschlussreiches über die „Medienintellektuelle“ Hannah Arendt zu entdecken, die zugleich ein „Medienprofi“ war und ihren anhaltenden Ruhm nicht zuletzt ihrem virtuosen Umgang mit den in ihrer Lebenszeit neu etablierten Massenmedien Radio und Fernsehen verdankt.6 Meyer macht deutlich, dass Arendt das „Wagnis der Öffentlichkeit“, so ihre eigenen Worte, nicht scheute, selbst wenn dies schon damals Reaktionen hervorrief, die wir heute als „Cancel Culture“ oder „Shitstorm“ bezeichnen würden: Publikationszusagen wurden zurückgezogen und langjährige Freundschaften beendet. Doch Arendts Denken lebte vom Widerspruch gegen den Zeitgeist, wie etwa das eingangs zitierte Gaus-Interview beweist, das bis heute millionenfach im Netz abgerufen wird.

Und auch mit seiner instruktiven Biografie hat Meyer den Geschmack des Publikums getroffen: Das Buch, eine Weile auf der Bestsellerliste des „Spiegel“ und auf Platz 1 der Sachbuchbestenliste der „Zeit“, hat inzwischen die vierte Auflage erreicht und ist zudem als Hörbuch erhältlich. Eine englische Ausgabe ist in Vorbereitung, und Übertragungen in 20 (!) weitere Sprachen sollen geplant sein, wie kürzlich bei einer Buchvorstellung in Berlin bekannt wurde.7

Anmerkungen:
1 Siehe https://www.youtube.com/watch?v=J9SyTEUi6Kw (14.03.2024). Eine Transkription findet sich unter https://www.rbb-online.de/zurperson/interview_archiv/arendt_hannah.html (14.03.2024).
2 Paul Bentin, Eine politische Aktivistin?, in: Jüdische Allgemeine, 19.10.2023, S. 21, https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/eine-politische-aktivistin/ (14.03.2024).
3 Siehe https://www.piper.de/hannah-arendt-und-die-banalitaet-das-boesen (14.03.2024). Es sind bereits acht Bände in der Reihe erschienen. Für den Mai 2024 angekündigt ist der erste Band einer neuen von Meyer herausgegebenen vierbändigen Sammlung aller deutschsprachigen oder ins Deutsche übertragenen Zeitungsartikel und Aufsätze Arendts, darunter auch bislang unveröffentlichte Texte: https://www.piper.de/buecher/vortraege-und-aufsaetze-1930-1938-isbn-978-3-492-31839-6 (14.03.2024). Davon zu unterscheiden ist die Kritische Gesamtausgabe der Werke Arendts, ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördertes umfassendes Editionsprojekt, dessen gedruckte Bände im Wallstein-Verlag erscheinen und jeweils ein Jahr später im Open Access auf der Projektwebsite zugänglich sind: https://www.arendteditionprojekt.de (14.03.2024). Meyer sieht seine „Studienausgabe“ ausdrücklich nicht in Konkurrenz zu diesem Projekt; vgl. sein Vorwort in der erweiterten Neuausgabe von Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 2022, S. 7.
4 Selbst ein wesentlich schmalerer Arendt-Band (Werner Renz, ad Hannah Arendt. Eichmann in Jerusalem. Die Kontroverse um den Bericht „von der Banalität des Bösen“, Hamburg 2021, 191 S.) enthält allein in einem Kapitel mehr Fußnoten als Meyers gesamtes Buch.
5 Elisabeth Young-Bruehl, Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit. Aus dem Amerikanischen von Hans Günther Holl, Frankfurt am Main 1986 (und öfter). Die englische Originalausgabe erschien bereits 1982, nur sieben Jahre nach Arendts Tod, unter dem Titel „Hannah Arendt. For Love of the World“ in der Yale University Press. Aktuellere einschlägige Biografien sind unter anderem: Annette Vowinckel, Hannah Arendt, Stuttgart 2006, 2., durchgesehene und ergänzte Aufl. 2014; Laure Adler, Dans les pas de Hannah Arendt, Paris 2005; Kurt Sontheimer, Hannah Arendt. Der Weg einer großen Denkerin, München 2005.
6 Zuletzt hat Meyer dem Verhältnis von Arendt zu den Medien auch einen hörenswerten Essay im „Nachtstudio“ von Radio Bayern 2 gewidmet: https://www.br.de/radio/bayern2/programmkalender/ausstrahlung-3451650.html (14.03.2024), inklusive einer KI-generierten Stimme Hannah Arendts. Arendt selbst wurde in den ersten Nachkriegsjahrzehnten oft als Gast in die Sendung „Nachtstudio“ eingeladen.
7 Siehe https://www.youtube.com/watch?v=S3-w0PnAtl0 (14.03.2024).